„Da ist ja nicht mal ein Foto dabei, wie soll ich denn einen Bewerber ohne Foto beurteilen?!“ – ein Beitrag von Georg Müller
Vielleicht kommt dir dieser Satz bekannt vor? In meiner Tätigkeit als Personalberater habe ich ihn so oder in abgewandelter Form schon mehrmals gehört.
Vielleicht hast du dir das sogar schon einmal selbst gedacht? Nein, ganz bestimmt nicht, denn es würde uns ja nicht mal im Traum einfallen, Menschen nach ihrem Äußeren zu bewerten… im Leben nicht… absolut nicht! Wir bewerten Lebensläufe nur nach den gesuchten Fähigkeiten für die zu besetzende Stelle, stimmts? Hand aufs Herz: Schön wärs! Anonyme Bewerbungen können zu mehr Diversität und Chancengleichheit führen!
Wie bewerten wir eigentlich Lebensläufe?
Wir alle treffen unsere täglichen Entscheidungen mit „Unbewusster Voreingenommenheit“. Der sogenannte Unconscious Bias hilft uns mit der Informationsflut in der Arbeitswelt umzugehen und schnelle Entscheidungen zu treffen. Leider führt diese Unbewusste Voreingenommenheit gegenüber Parametern wie dem Erscheinungsbild, dem Geschlecht, der Herkunft oder der besuchten Bildungsstätte einer Person dazu, dass passende Bewerbungen im digitalen Papierkorb landen – so entsteht eine ungewollte Hürde für Bewerbende und auch eine Hürde für Diversität. Auch wenn wir uns noch so bemühen: Ans Unbewusste ranzukommen ist schwer, manch einer legt sich dafür jahrelang auf die Couch!
In einer Studie zur Chancengleichheit am Arbeitsmarkt wurde herausgefunden, dass allein der Name einer Person oder das Tragen eines Kopftuches zu signifikant weniger Einladungen zum Vorstellungsgespräch führt. Das ist schade, denn divers aufgestellte Unternehmen sind oftmals leistungsfähiger und sie sind für viele Bewerber*innen attraktive Arbeitsstätten.
Doch mit etwas Aufwand ist es gar nicht so schwer für mehr Fairness und Chancengleichheit auf dem Bewerbermarkt zu sorgen!
Wie können wir unseren unconscious bias austricksen?
Sich selbst auf die Spur zu kommen und sich einzugestehen, dass die eigenen Entscheidungen nicht so niet- und nagelfest sind, wie angenommen, ist ein erster guter Schritt. Dass der Mensch nicht „Herr im eigenen Hause ist“ und das Unbewusste bei vermeintlich bewussten Entscheidungen ein ordentliches Wörtchen mitredet wusste schließlich schon der gute alte Sigmund Freud.
Die Bewusstheit für die eigenen, ungeahnten Vorurteile kann durch das Vier-Augen-Prinzip in der HR geschärft werden. Zwei Personen schauen sich unabhängig voneinander die eingegangenen Lebensläufe an und sprechen danach über ihre Eindrücke – sie kontrollieren sich also gegenseitig.
Dieses Prinzip sollte auf jeden Fall bei der Sichtung von Bewerbungen angewandt werden. Durch Bewusstheit der Bewertungskriterien und die Diskussion im Team können bereits eine Menge Vorurteile ausgeschaltet werden.
Einfach sich selbst und andere fragen:
Wie kommst du zu dieser Entscheidung und was hat das mit den gewünschten Fähigkeiten zu tun?
Aber du kannst auch auf externe Hilfe zugreifen:
Es gibt mittlerweile jede Menge Workshops die sich dieser Thematik annehmen: Unter dem Stichwort implicit bias training findest du solche Angebote und kannst dich mit den unbewussten Stereotypen in deinen Urteilen vertraut machen. Achtsamkeitspraxis für dich und dein Team „on the job“. Garantiert ohne Grüntee und Meditationskissen, dafür mit vielen Beispielen aus der Praxis im Personalbereich!
Noch fairer und nachvollziehbarer wird deine Lebenslauf-Bewertung allerdings, wenn der CV selbst gar keine große Angriffsfläche für den unconscious bias bietet.
Anonyme Bewerbungen – einfaches Mittel, große Wirkung
Wenn alle Angaben zu Herkunft, Alter und Wohnort der Person wegfallen und auch kein Foto (egal wie professionell gemacht) von den skills einer Fachkraft ablenkt, dann zeigen wir in unseren Entscheidungen unbewussten, rassistischen Vorurteilen und ungerechten Übervorteilungen die rote Karte!
Aus diesen Gründen anonymisieren wir bei OHRBEIT alle Bewerbungen vor der Weitergabe an unsere Jobcast-Kund*innen und das sieht folgendermaßen aus:
Alle personenbezogenen Daten und Merkmale nehmen wir aus der Datei heraus:
- Foto, Name und Alter, Kontaktdaten (E-Mail etc.)
- Geschlecht
- Herkunft
- PLZ und Straße (lässt oft Rückschlüsse auf das Milieu zu)
- Jahreszahlen – wir geben die Dauer einer Station an (z.B. 1 Jahr und 6 Monate)
- Sprachen (z.B. Terminus Muttersprache) geben wir im europäischen Referenzrahmen an
Positionsbezeichnungen werden bei uns gegendert oder substantiviert. Aus dem Sachbearbeiter wird so eine Sachbearbeiter*in oder die Rolle ‚Sachbearbeitung‘.
Altersdiskriminierung beugen wir vor, indem wir maximal die letzten 15 Jahre im Lebenslauf darstellen.
In der täglichen Arbeit im Personalbereich sieht das dann so aus: Eine vorgeordnete Stelle anonymisiert eingehende Bewerbungen und die bewertende Person bekommt nur die fertig anonymisierte Version des CVs zu sehen.
So einfach ist mit ein bisschen Mehraufwand für mehr Chancengleichheit am Arbeitsmarkt gesorgt!
Ein Fakt am Rande: Viele Recruiting Agencys kennen sich mit der teilweisen Anonymisierung von Profilen bestens aus, denn hier werden Lebensläufe von Kandidat*innen (u.a. aus Datenschutzbestimmungen) schon längst anonymisiert.
Was spricht gegen anonymisierte Bewerbungen für mehr Chancengleichheit?
Was hält dich nun davon ab, Bewerbungen nur anonymisiert zu beurteilen und so für mehr Chancengleichheit zu sorgen? Viele Personaler*innen finden die Ideen, die für einen anonymisierten ersten Schritt im Bewerbungsprozess sprechen sinnvoll, aber sie scheuen die Umsetzung. Zum einen wittern sie den Mehraufwand (da ist was dran!) und zum anderen: Ja, es ist eben ganz schön ungewohnt sich nicht mehr auf sein ach so valides „Bauchgefühl“ verlassen zu können und Lebensläufe aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten! Dafür muss die dauergestresste HR-Kraft nämlich ganz schön aus der Komfortzone! Der Mehraufwand sollte allerdings kein Argument sein, denn ein bisschen mehr Aufwand darfst du für mehr Chancengleichheit im Bewerbungsprozess gerne betreiben… Grüße an dieser Stelle an den Klimaschutz, für den wir uns auch alle ordentlich strecken müssen!
Gibt es eigentlich Gegenargumente zur Anonymisierung? Ja klar, die gibt es. Mein Kollege Alex hat sich in unserem OHRBEIT Blog bereits mit den Gegenargumenten zur Anonymisierung befasst.
Anonyme Lebensläufe zu bewerten, holt dich aus deiner Komfortzone!
Zugegeben: Anonymisierte Bewerbungen holen uns alle ordentlich raus aus der Komfortzone und rein in die Lernzone.
Einen CV ohne die „nebenbei“ generierten Informationen und Gefühle (Sympathie, Antipathie, Gemeinsamkeiten,…) zu analysieren ist ungewohnt. Aber die Umgewöhnung lohnt, denn so kannst du dein Handwerkszeug nochmals nachschärfen und dir Gedanken machen, was denn wirklich den Ausschlag für eine ausgesprochene Einladung zum Interview ist.
Es gibt keinen einfacheren Weg, um deine unbewussten Entscheidungsprozesse auszutricksen, denn wenn wir Informationen nicht unbewusst aufnehmen können, dann können sie uns auch nicht beeinflussen.Und der allseits bekannte „Faktor Nase“ kommt ja im persönlichen Bewerbungsgespräch im nächsten Schritt auch noch dazu!Bei der Anonymisierung geht es nicht darum, das Zwischenmenschliche aus den Beziehungen zu tilgen! Du kannst beruhigt weiterhin deinen Augen folgen, beim Tindern oder sonst wo. Daran ist nichts falsch, wir Menschen sind ja Augentierchen und ohne unsere „intuitiven“ Entscheidungen wären wir nicht lebensfähig.
Es geht darum, deine professionellen Recruiting-Entscheidungen nicht von unbewussten Vorurteilen leiten zu lassen!
Einfach mal ausprobieren, anstatt das Haar in der Suppe zu suchen, denn es lohnt sich, diesen neuen Weg im Human Ressources einzuschlagen: Diverse Teams performen großartig und durch Vielfalt entsteht eine attraktive Arbeitgebermarke.
Überliste deinen Unconscious Bias mit anonymisierten Bewerbungen.
Viel Spaß in der Lernzone!
Autoreninfo
Georg Müller ist bei OHRBEIT für Texte, kreative Ideen und Redaktion zuständig.
OHRBEIT verknüpft Stellenanzeigen mit Podcasts und geht so neue Wege im Recruiting. Seit 2012 arbeitet Georg im Bereich Personalberatung & Headhunting – seine Erfahrungen lässt er in die OHRBEIT-Vision einer faireren Arbeitswelt einfließen.